Wie Biotechnologie unser Leben durchdringt

Zehn Antworten

Interview mit Dr. Gerhard Schmid, Geschäftsbereichsleiter WACKER BIOSOLUTIONS

WACKER BIOSOLUTIONS hat einen beispielhaften Transformationsprozess durchgemacht. Wo liegt das neue Kerngeschäft?

Gerhard Schmid: Wir haben uns 2010 komplett neu aufgestellt, mit einem klaren Fokus auf den Markt. Heute konzentrieren wir uns auf die Bedürfnisse unserer Kunden in den Kernmärkten Lebensmittel und Pharma. Das ist uns in den letzten Jahren gut gelungen. Seit wir den Bereich neu strukturiert haben, konnten wir den Umsatz von 100 auf über 220 Millionen Euro steigern.

Biopharmazeutika gelten als Wachstumsmarkt.

Gerhard Schmid: Der Pharmamarkt verschiebt sich massiv in Richtung der biotechnologisch hergestellten Arzneien. Wo früher chemische Moleküle eingesetzt wurden, setzen Mediziner jetzt auf Biopharmazeutika. Für mich als Biologen ist es phänomenal, was da an neuen Therapien kommt. Zum Beispiel werden eigene Körperzellen umprogrammiert, die dann ganz spezifisch einen Tumor angreifen. Auch die Gentherapie ist bei Epilepsie oder Alzheimer ein unwahrscheinlich spannender Ansatz.

Welche Rolle spielt WACKER BIOSOLUTIONS dabei?

Gerhard Schmid: Wir sind als Dienstleister für diese neuen Therapien gut aufgestellt und haben jetzt auch die Kapazitäten, um neue Kunden zu gewinnen. Mit unserer Produktion in Amsterdam, die wir 2018 akquiriert haben, verdoppeln wir unsere Kapazität.

Amsterdam ist ein gutes Stichwort. Dort produziert WACKER BIOSOLUTIONS auch Lebendbakterien, unter anderem als Impfstoff. Was hat es damit auf sich?

Gerhard Schmid: Lebendbakterien, die als Impfstoff –zum Beispiel gegen Cholera – eingesetzt werden, müssen steril, das heißt ohne bakterielle oder virale Verunreinigung, hergestellt werden. Das erfordert spezielle Techniken, die nur sehr wenige Hersteller besitzen und uns somit eine gewisse Alleinstellung ermöglichen.

Dr. Gerhard Schmid (Foto)
Dr. Gerhard Schmid (64) leitet seit 2003 den Geschäftsbereich WACKER BIOSOLUTIONS. Er ist seit 1997 bei WACKER.

Dann könnte WACKER doch gleich selbst Medikamente entwickeln …

Gerhard Schmid: Wir wollen keine Pharmafirma sein. Als Auftragshersteller bieten wir umfassenden Service – und wachsen damit stärker als der Markt. Wir entwickeln Zelllinien für neue Pharmaproteine zum Beispiel für die Krebstherapie. Unsere Technologien haben einen hervorragenden Ruf und helfen dabei, Pharmaproteine kosteneffizienter herzustellen. Pharmazeutische Produkte selbst entwickeln und verkaufen wollen wir nicht.

Wo liegen die Schwerpunkte im Bereich Lebensmittel?

Gerhard Schmid: Der Lebensmittelmarkt ist ein wichtiges Standbein. Er ist stabil, groß und heterogen, außerdem wächst er in bestimmten Bereichen deutlich. Hier sind wir schon seit Jahrzehnten als weltgrößter Produzent von Kaumasse für Kaugummis aktiv. Daneben sind wir in den letzten Jahren dem Megatrend „Gesunde Ernährung“ gefolgt.

Dr. Gerhard Schmid im Gespräch (Foto)

Was macht WACKER im Bereich „Gesunde Ernährung“ genau?

Gerhard Schmid: Wir sind beispielsweise sehr erfolgreich mit der Vermarktung unseres selbst entwickelten Curcumin-Produktes, das in Cyclodextrinen verkapselt ist. Es wurde nachgewiesen, dass Curcumin, ein Pflanzenextrakt aus der Gelbwurz, eine starke entzündungshemmende Wirkung hat. Unser Produkt CAVACURMIN® zeichnet sich durch eine sehr hohe Bioverfügbarkeit aus, das heißt, der menschliche Körper kann über die Einnahme von Cavacurmin vierzig Mal mehr Curcumin aufnehmen, als das sonst der Fall wäre.

Auch Cystein kommt im Lebensmittelbereich zum Einsatz. Es wurde bisher aus Federn, Menschenhaar oder Schweineborsten gewonnen. WACKER hat ein neues Verfahren entwickelt.

Gerhard Schmid: Wir haben es als erstes Unternehmen geschafft, fermentativ herzustellen. Das ist vegetarisch und spart nebenbei große Mengen von Salzsäure ein. Deshalb haben wir für unser Verfahren auch einen Umweltpreis gewonnen. An unserem neuen Standort in León in Nordspanien haben wir jetzt eine , wo wir Cystin herstellen können, das über einen Elektrolyseprozess zu Cystein umgewandelt wird. Cystein wird nicht nur in der Lebensmittelindustrie eingesetzt – zum Beispiel als Aromarohstoff, es ist auch in der Pharmaindustrie ein wichtiger Rohstoff zur Herstellung von Hustenlöser, aber auch Biopharmazeutika.

Innovativ ist WACKER BIOSOLUTIONS auch bei Cyclodextrinen. Ihre Forscher entwickeln immer wieder neue Anwendungen. Welches sind die zukunftsträchtigsten?

Gerhard Schmid: Wir sind der einzige Hersteller, der alle drei Formen dieses natürlichen Stärkeabbauproduktes im industriellen Maßstab produzieren kann. Der Löwenanteil unserer Produktion geht als Beta- in Raumspray, das Gerüche neutralisiert. Für Alpha- und Gamma-Cyclodextrin finden wir immer neue Anwendungen. Das sind magische Moleküle! Man kann zum Beispiel Pflanzenöl mit Cyclodextrinen mischen und erhält so eine vegetarische Mayonnaise ohne Ei. Man kann es auch mit Honig aufschlagen und daraus einen Schaum herstellen. Es kann aber auch bitteren Geschmack kaschieren.

Wo sehen Sie den Geschäftsbereich in fünf oder zehn Jahren?

Gerhard Schmid: Das Wachstum wird weitergehen. Wir erwarten Raten im zweistelligen Prozentbereich. Die Investitionen und Zukäufe der letzten Monate bieten eine enorme Chance, denn jetzt können wir als Chemieunternehmen zeigen, dass wir langfristig einen großen Teil unseres Geschäfts auf biotechnologischer Basis, mit nachwachsenden Rohstoffen betreiben können.

Cystein
Cystein ist eine schwefelhaltige Aminosäure und gehört zu den nichtessentiellen Aminosäuren, da es vom Körper gebildet werden kann. Cystein findet z. B. als Lebensmittelzusatzstoff oder Hustenmittel Anwendung. Cystein und seine Derivate stellen ein Geschäftsfeld des Bereichs WACKER BIOSOLUTIONS dar.
Fermentation
Mit Fermentation bezeichnet die Biotechnologie die Umsetzung von biologischen Materialien mit Hilfe von Bakterien-, Pilz-, oder Zellkulturen oder durch Zusatz von Enzymen. So lassen sich Produkte wie Insulin, eine Vielzahl von Antibiotika und Aminosäuren (z. B. Cystein) mit Hilfe von Mikroorganismen großtechnisch in Bioreaktoren synthetisieren.
Cyclodextrine
Cyclodextrine gehören zur Klasse zyklischer Oligosaccharide, zu Deutsch: ringförmige Zuckermoleküle. Cyclodextrine sind in der Lage, Fremdmoleküle wie Geruchsstoffe zu binden oder Wirkstoffe dosiert an die Umgebung abzugeben. Cyclodextrine werden von WACKER BIOSOLUTIONS produziert und vermarktet.

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