Mikroben als Fabriken
Cystin in Akkordarbeit
In der Luft liegt der Geruch von Brotteig und Hefe. In der Fabrikhalle reihen sich Edelstahlkessel aneinander. Um den größten, der drei Stockwerke hoch ist, windet sich eine Treppe. Die technischen Apparate brummen laut – auch wenn in den Kesseln Milliarden winziger biologischer Fabriken lautlos ihre Arbeit verrichten: Bakterienzellen. Jede von ihnen ist eine eigenständige Produktionseinheit. Gemeinsam erzeugen sie in Akkordarbeit Cystin, eine Aminosäure, die beispielsweise die Lebensmittel- und Pharmaindustrie nutzt. Alles, was die Bakterien als Ausgangsstoff brauchen, ist Glucose, also Traubenzucker.
Biotech-Kompetenz auf Wachstumskurs
Auf die biotechnologische Produktion dieser Aminosäure mithilfe von Mikroorganismen ist der WACKER-Standort im nordspanischen León spezialisiert. Die Stadt mit gut 100.000 Einwohnern ist ein touristisches Zentrum – sie liegt auf dem bekannten Jakobsweg. Seit über 50 Jahren stellen Mikrobiologen hier auch bakterielle Produkte her, beispielsweise Antibiotika. WACKER ist neu in León. „Im Jahr 2016 haben wir die Anlagen in León erworben“, sagt Dr. Stefan Neumann, Leiter des Geschäftsfelds Bioprocessing bei WACKER. Seitdem hat er den Standort und das Team Stück für Stück auf- und ausgebaut. Ende des Jahres 2018 ging die Anlage in den Regelbetrieb.
Spezialisten für Cystin in Lebensmittelqualität
Im vergangenen Herbst war das Team um Neumann mit dem Hochfahren der Cystin-Produktionsanlage beschäftigt. Parallel dazu ließen sich die WACKER-Biotechnologen ihre Produktion nach den gültigen Regeln der Lebensmittelherstellung zertifizieren. Der Beleg dafür, dass die Anlage Cystin in Lebensmittelqualität produziert. „Wir beliefern seit Langem Kunden aus der Lebensmittelindustrie mit Cystein, haben es aber bislang nicht selbst hergestellt“, erklärt Neumann. Cystin besteht aus zwei verbundenen Cystein-Molekülen. In der Industrie wird vor allem die einzelne Aminosäure verwendet, also Cystein, das entsteht, wenn man Cystin spaltet. In León produzieren die WACKER-Spezialisten ab jetzt selbst Cystin. Das hat mehrere Vorteile: WACKER ist nicht mehr von Lieferanten abhängig, kann auf eine erhöhte Nachfrage schneller reagieren – und das bei gleichbleibend hoher Qualität.
Von Fertiggerichten bis Hustenlöser
Die Anwendungsmöglichkeiten für die Aminosäure sind vielfältig: Als Zusatz in Lebensmitteln erzeugt Cystein einen Fleischgeschmack – obwohl es vegetarisch ist. Weit verbreitet ist die Aminosäure als Zusatzstoff in Fertiggerichten wie Tütensuppen. Eine ganz andere Funktion erfüllt sie in Großbäckereien. Hier spaltet Cystein das „Kleberprotein“ Gluten aus dem Mehl, sodass sich der Teig besser kneten und verarbeiten lässt.
„Jeder unserer Edelstahltanks fasst 100.000 Liter. Wir beginnen aber mit nur einem Milliliter.“
Dr. Stefan Neumann, Leiter des Geschäftsfelds Bioprocessing bei WACKER
Auch in der Pharmaindustrie spielt die Aminosäure eine große Rolle. „Cystein ist häufig der Ausgangsstoff für Wirkstoffe, die in Brausetabletten enthalten sind und dabei helfen, den Schleim zu lösen. Spezielle Lösungen, die Ärzte bei der künstlichen Ernährung von Patienten verwenden, enthalten ebenfalls Cystein“, sagt Neumann.
Bakterien als Produktionsstätte
Bevor sich das WACKER-Cystein verwenden lässt, müssen die bakteriellen Synthese-Chemiker in den Fermentern arbeiten. „Jeder unserer Edelstahltanks fasst 100.000 Liter. Wir beginnen aber mit nur einem Milliliter“, sagt Neumann. Diese so genannte Vorkultur teilen die Biotech-Spezialisten auf mehrere größere Gefäße mit entsprechend mehr Nährmedium auf. So erhöhen sie schrittweise die Bakterienanzahl. Der Vorteil dieser Vorgehensweise: ständige Kontrolle, dass nur die gewünschten Mikroben kultiviert werden.
Im Labor werden Nährlösungen hergestellt.
WACKER ist weltweit das erste Unternehmen, das die Aminosäure Cystin in höchster Reinheit fermentativ mithilfe von Bakterien aus Glucose und anorganischen Salzen produziert.
Dr. Stefan Neumann hat den Standort León seit 2016 auf- und ausgebaut.
Arbeit mit dem modifizierten Sicherheitsstamm
Das Team um Neumann setzt auf eine spezielle Unterart des Bakteriums Escherichia coli. Diese Mikrobenart kommt bereits seit Jahrzehnten in Laboren weltweit zum Einsatz. Die WACKER-Spezialisten in León arbeiten mit einem so genannten Sicherheitsstamm. Dieser ist so modifiziert, dass er außerhalb der Fermenter nicht überlebensfähig ist. Zudem hat WACKER den Bakterienstamm optimiert, damit er aus Glucose möglichst viel Cystin bildet.
Hat die Kultur im Fermenter die maximale Dichte erreicht, wird das wertvolle Produkt entnommen. „Dann separieren wir die Bakterien vom Cystin. Dafür setzen wir unter anderem Zentrifugen ein“, sagt Neumann. So trennen die Experten die Bestandteile der Nährlösung hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Dichte auf. Das gereinigte Endprodukt Cystin ist ein weißes Pulver, das verpackt und abtransportiert werden kann.
Vorteile gegenüber herkömmlichen Verfahren
Dank ihres ausgeklügelten Prozesses schaffen es die WACKER-Biotechnologen, das komplexe Molekül Cystin aus dem Rohstoff Glucose herzustellen. Der Vorteil: Der verwendete Traubenzucker ist rein pflanzlich, weil er aus Getreide gewonnen wird. Deswegen ist auch das Folgeprodukt Cystein vegetarisch, koscher und halal. Das herkömmliche Verfahren zur Cystein-Herstellung ist dagegen auf Tierhaare, Federn oder menschliche Haare als Ausgangsstoff angewiesen, die durch Salzsäure gespalten werden. Sie zerlegt die Haarproteine in ihre Aminosäure-Bestandteile. So haben Industriechemiker lange Zeit Cystein in großem Maßstab gewonnen. „Allerdings ist dieser Prozess ethisch bedenklich und ressourcenintensiv, weil viel Salzsäure nötig ist“, betont Neumann.
Ganz anders das WACKER-Verfahren: Es kommt mit einem Bruchteil der ursprünglichen Menge Salzsäure aus. Dafür erhielt das Unternehmen im Jahr 2008 den Umweltpreis des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Auch für die Standardisierung des Produktionsprozesses ist das biotechnologische Verfahren optimal. „Wir haben klar definierte Medien und Ausgangsstoffe für die Cystin-Herstellung. Im Vergleich zu einem Prozess, der auf Tierhaaren basiert, treten Qualitätsschwankungen bei unseren Rohstoffen nicht auf“, erklärt Neumann. Das ist vor allem für die Pharma- und Lebensmittelindustrie wichtig, weil diese Branchen sehr hohe Ansprüche an Qualität und Reinheit ihrer Rohstoffe stellen.
Rund 50 Mitarbeiter zählt das WACKER-Team im nordspanischen León.
Trockner für die Cystin-Herstellung.
Tradition mit Zukunft
León bot für das WACKER-Team eine optimale Ausgangslage, um eine hochwertige Produktionsanlage für Cystein aufzubauen: „Durch die lange Geschichte des Standortes ist das Gelände perfekt auf die biotechnologische Produktion ausgelegt – von der Anlieferung der Rohstoffe über die Fermentation und Aufreinigung bis zum Abtransport des Endproduktes. Wir mussten uns nur noch um kleinere Anpassungen kümmern wie eine Zutrittsschleuse am Eingang zur Fermentationshalle, damit wir die Produktion in Lebensmittelqualität sicherstellen können“, sagt Neumann.
Ein zusätzliches Stockwerk mit einem Labor verbesserte die Analysemöglichkeiten vor Ort. Außerdem gibt es in León viele Fachkräfte, die Erfahrung mit der großtechnischen Umsetzung fermentativer Produktion haben. „Wir haben von Anfang an darauf geachtet, in Nordspanien die WACKER-Firmenkultur vorzuleben“, sagt Neumann. Eine Strategie, die sich ausgezahlt hat: „Die Mitarbeiter sind sehr motiviert und fleißig, denn sie schätzen WACKER als verlässlichen Arbeitgeber.“
León – der Standort in Zahlen:
50Mitarbeiter
100.000 m2Gesamtfläche
800.000 lFermentationsvolumen
30 Mio. €Gesamtinvestitionen
Der Standort ist perfekt auf die biotechnologische Produktion ausgelegt.
Gute Aussichten für mikrobielles Cystein
Mit der eigenen Cystin-Herstellung ist das Unternehmen jetzt unabhängig von dem Vertragspartner, der die Aminosäure bislang für WACKER produziert hat. Zudem wurde biotechnologisches Wissen aufgebaut und die Wertschöpfung vertieft. „Die Integration der Cystin-Produktion war ein logischer Schritt. Dass wir das Projekt gemeinsam mit unserem Team zum erfolgreichen Abschluss und in den Routinebetrieb gebracht haben, ist ein Meilenstein für unser zukünftiges Geschäft“, sagt Neumann. Derzeit arbeiten am Standort rund 50 Mitarbeiter, der Großteil in der Produktion – und die Belegschaft soll weiterwachsen. Platz ist ausreichend vorhanden: Das Firmenareal im nordspanischen León umfasst rund 100.000 Quadratmeter.
„Wir haben in Nordspanien von Anfang an darauf geachtet, die WACKER-Kultur vorzuleben.“
Dr. Stefan Neumann
Um die Fermentationskapazitäten in Zukunft voll auszulasten, laufen die Akquise-Aktivitäten im Vertrieb auf Hochtouren. Die Ausgangslage ist gut. In der Lebensmittelindustrie findet, vor allem aus ethischen Gründen, ein Umdenken statt. „Wir beobachten seit einiger Zeit den Trend weg von tierisch erzeugtem Cystein“, sagt Neumann. Er ist überzeugt, dass immer mehr Unternehmen auf den Zug aufspringen werden – und denkt schon an die nächsten Produkte, die sich fermentativ herstellen ließen. Welche das sind, will Neumann nicht verraten. Doch eins ist klar: Den Bakterien in León wird die Arbeit nicht so schnell ausgehen. Und so lange wird dort das Medium in den Fermentern weiter den Geruch nach Hefe und Brotteig verströmen.