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Mit der Gründung der ersten Auslands-Tochtergesellschaft Wacker Chemie Nederland B.V. im Jahr 1972 legen wir den Grundstein, um die europäischen Märkte für unser Unternehmen erfolgreich zu erschließen. Mehr als 40 Jahre später sprechen wir ganz selbstverständlich von Europa als unserem Heimatmarkt, auf dem wir die Nummer eins in der Siliciumchemie und bei Ethylen-basierten Polymerprodukten sind. Auch in Zukunft wollen wir hier an der Spitze stehen.
Der Schlüssel dafür liegt in der hohen Qualität unserer Produkte, in der Entwicklung neuer Anwendungen sowie unserem exzellenten Service. Damit differenzieren wir uns vom Wettbewerb und bieten unseren Kunden einen hohen Mehrwert. Mit Deutschland als Rückgrat unseres weltweiten Produktionsverbundes stellen wir rund 80 Prozent unserer Produkte auf dem alten Kontinent her und verkaufen sie in der ganzen Welt.
Dieser Geschäftsbericht zeigt anhand von vier Geschichten, mit welchen Strategien und Ideen wir jeden Tag aufs Neue unsere starke Marktposition in Europa als stabiles Fundament unseres weltweiten Geschäftes festigen und ausbauen.
Mit höchster Präzision fräsen sich acht gigantische Tunnelbohrmaschinen durch die Eingeweide Londons, vorbei an Abwasserkanälen, Gasleitungen, Fundamentpfeilern und U-Bahn-Schächten. Maximal einen Millimeter dürfen die Maschinen von der vorgegebenen Route abweichen. Doch auch innerhalb der Toleranz trennt sie manchmal nur weniger als ein Meter von den Lebensadern der Millionenmetropole.
Insgesamt 10.000 Menschen arbeiten an Crossrail, dem größten Infrastrukturprojekt Europas: Für 15 Milliarden Pfund wird eine neue West-Ost-Eisenbahnverbindung mitten durch London gebaut. Insgesamt 42 Kilometer Tunnel werden gegraben. Erst Ende 2018 soll die Strecke eröffnen, aber schon treiben Investoren große Immobilienprojekte in der Nähe der zehn neuen Stationen voran.
Hier unter der Erde Londons wird an der Zukunft Europas gebaut. Führende Wirtschaftsforschungsinstitute würden sich wünschen, es gäbe mehr solcher Projekte auf dem alten Kontinent. Europa kann sich von der Finanz- und Schuldenkrise nur langsam erholen. Zum ersten Mal seit zwei Jahren konnte die europäische Wirtschaft im Jahr 2014 wieder leicht zulegen. Nach wie vor kämpfen viele Länder aber mit hoher Arbeitslosigkeit, zu vielen Schulden und geringen Investitionen. Hinzu kommt der Reformstau in den beiden großen Volkswirtschaften Frankreich und Italien, die das Wachstum bremsen. Mittlerweile fordern viele Politiker in Brüssel sowie die Europäische Zentralbank, mehr in Forschung, Bildung und Infrastruktur zu investieren, um die europäische Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie und deshalb hat Europa auch ein mentales Problem: Es fehlt der Glaube an eine starke Erholung.
Vor allem in den südeuropäischen Ländern halten sich die Verbraucher mit Anschaffungen zurück, weil sie von weiter sinkenden Preisen für Produkte ausgehen. Es droht die Gefahr einer Deflation. Zudem ist die Investitionsquote europäischer Firmen gesunken. Im Jahr 2007 investierten Unternehmen 24,7 Prozent der erwirtschafteten Erträge wieder. Seit der Finanz- und Schuldenkrise 2008 sind es nur noch 21 bis 22 Prozent.
Rückbesinnung auf die Industrie
In dieser Situation besinnt sich Europa wieder auf die Bedeutung seiner Industrie. Die Europäische Kommission gibt das Ziel vor, dass bis zum Jahr 2020 die Industrie 20 Prozent zum europäischen Bruttoinlandsprodukt beitragen soll. Aktuell sind es weniger als 15 Prozent, mit großen Unterschieden. In Deutschland beträgt der Industrieanteil 22 Prozent am Bruttoinlandsprodukt, in Großbritannien nur noch zehn Prozent. Doch auf die Industrie entfallen über 80 Prozent der EU-Ausfuhren sowie der privaten Forschungs- und Innovationstätigkeit. Durch jede zusätzliche Stelle im verarbeitenden Gewerbe entstehen bis zu zwei Arbeitsplätze in anderen Branchen. Der Maßnahmenkatalog der EU sieht unter anderem vor, den Zugang zu Energie, Rohstoffen und Krediten billiger zu machen bzw. zu vereinfachen.
Weltweite Ausgaben der Chemieindustrie für Forschung und Entwicklung
Quelle: vci-Oxford Economics Studie, 2014
Davon profitiert die Chemie als europäische Schlüsselindustrie. Fast drei Viertel der gesamten Chemieproduktion bleiben im europäischen Binnenmarkt. Ohne sie kämen auch die Crossrail-Tunnelbauer in London nicht vom Fleck. Ihre Maschinen behandeln den Londoner Ton- und Lehmboden mit Polymeren und Tensiden, damit er schneller und sicherer abgebaut werden kann. Zuschlagsstoffe machen die Abertausende Stahlbeton-Ringelemente, mit denen die Tunnel ausgekleidet werden, langlebig und brandbeständig. „Die Chemie trägt mit ihrer breiten Palette an Produkten und innovativen Lösungen wesentlich zum Wohl der EU-Wirtschaft als Ganzes bei“, sagt Kurt Bock, CEO von BASF und ehemaliger Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie in Europa (Cefic).
Im vergangenen Jahrzehnt erreichte die Chemiebranche jedes Jahr bedeutende Überschüsse im Welthandel. Im Jahr 2013 lag die Rekordsumme bei 49 Milliarden Euro. Diese Entwicklung ist vor allem dem Wachstum der Schwellenländer geschuldet. 85 Prozent der Exporte gingen auf das Konto von Spezialchemie und Chemikalien für Konsumprodukte. Davon profitierten vor allem die deutschen Unternehmen, die für mehr als ein Viertel der gesamten Chemieproduktion in der EU stehen. Im weltweiten Maßstab ist Deutschland viertgrößter Chemieproduzent hinter China, den USA und Japan. Mit einem Umsatz von rund 190 Milliarden Euro ist die Chemie die drittgrößte Branche in Deutschland hinter Kraftfahrzeugindustrie (364 Milliarden Euro) und Maschinenbau (223 Milliarden Euro).
Energiekosten als Wachstumsbremse
So kommt es zu einer auf den ersten Blick paradox anmutenden Situation. Die deutsche Chemieindustrie ist Exportweltmeister, und die europäische Chemieindustrie hat ihren Umsatz in den vergangenen 20 Jahren fast verdoppelt. Doch gleichzeitig halbierte sich der Anteil der Europäer am Weltmarkt – von 35,2 auf 17,8 Prozent. Der Grund: Durch den Aufstieg der Schwellenländer ist der Weltchemieumsatz in den vergangenen 20 Jahren um mehr als das Dreifache gestiegen – von 1.300 Milliarden Euro auf 4.100 Milliarden Euro. Davon konnte Europa nicht in ausreichendem Maße profitieren, urteilt der Cefic-Nachhaltigkeitsbericht 2013/2014: „Der kleinere Anteil auf außereuropäischen Märkten ist ein Ergebnis von abnehmender Wettbewerbsfähigkeit auf Grund von hohen Energie- und Rohstoffpreisen. Betroffen davon sind vor allem der Polymersektor und die Petrochemie und damit das erste Glied für fast alle Wertschöpfungsketten in der chemischen Industrie.“
Zwar profitiert auch die europäische Chemieindustrie vom billigen Rohöl: Zwischen Juni und Dezember fiel der Preis um 40 Prozent auf ein Fünfjahrestief. Die Weltwirtschaft wird 2015 allein deshalb um 0,8 Prozent wachsen, so Prognosen des IWF. Doch eine Hauptursache des Preisverfalls ist auch das große Problem der europäischen Prozessindustrie: die Fracking-Revolution in den USA. Die Amerikaner fluten ihre eigene Wirtschaft mit Öl und Gas aus Schiefergestein, seit 2010 haben sie ihre Produktion um täglich drei Millionen Barrel auf 8,5 Millionen Barrel gesteigert – und damit eine Reindustrialisierung im großen Stil eingeleitet: Laut IWF sind die US-Exporte dadurch um sechs Prozent gestiegen.
Die Europäische Union dagegen verfügt nur über ein Prozent der weltweiten Öl- und Gasreserven. Die Kosten für die jährlichen Importe werden für das Jahr 2013 auf etwa 400 Milliarden Euro geschätzt. Hinzu kommen die Kosten der Energiewende. Deutsche Unternehmen etwa bezahlen doppelt so viel für ihren Strom wie die Konkurrenz in den USA. Die Kosten der EEG-Umlage belaufen sich für die Chemiebranche auf eine Milliarde Euro pro Jahr.
Allein auf Grund der niedrigen Energiepreise werden bis 2016 in den USA neue Chemieanlagen für über 100 Milliarden Dollar gebaut, während in Deutschland unterhalb der Abschreibungen investiert wird. Dass die Auslandsinvestitionen der Branche 2012 erstmals seit vielen Jahren die Investitionen im Inland um mehr als 1,4 Milliarden Euro übertrafen, wertet der Verband der Chemischen Industrie (VCI) als „Alarmsignal für die Wettbewerbsfähigkeit“.
Schlüssel für den künftigen Erfolg Europas sind Innovationen
Nur über zahlreiche Innovationen kann es dem rohstoffarmen Europa gelingen, konkurrenzfähig zu bleiben. Häufig profitieren die Produzenten von den Ideen und Anwendungen aus der Chemie. Eine besonders kreative Branche ist der Automobilbau. Im Jahr 2013 gab es laut Center of Automotive Management (CAM) die Rekordzahl von 1.010 Innovationen. 41 Prozent davon gingen auf das Konto von nur drei Konzernen: BMW, Daimler und Volkswagen. Meist geht es bei den Verbesserungen um Kraftstoffeinsparung, um alternative Antriebe und um die Digitalisierung der Fahrzeuge, etwa mit Fahrerassistenzsystemen – Entwicklungen, bei denen die Chemie unter anderem neue, gewichtssparende Kunststoffe oder Ausgangsmaterial für leistungsstärkere Batterien und Elektronik beisteuert. Auch die Energiewende wäre ohne Chemie nicht möglich. Dass sich die Leistung der Windkraftanlagen von durchschnittlich 164 Kilowatt im Jahre 1990 auf über sieben Megawatt für heutige Hochleistungsanlagen steigern ließ, ist das Ergebnis einer Vielzahl an Neuentwicklungen. Die Chemie entwickelte Harze und Härter, Schmier- und Fließmittel und neue ultraleichte Werkstoffe für Türme und Rotoren.
Neben seinem Erfindungsreichtum kann Europa auch auf das Wachstum in den Ländern setzen, die durch die Osterweiterung 2004 in die Union kamen. In den ersten fünf Jahren ihrer Mitgliedschaft wuchs die Wirtschaft in den zehn neuen Beitrittsländern um 23 Prozent, in den alten EU-Staaten nur um acht Prozent. Vor allem Polen mit seinen fast 40 Millionen Einwohnern hat einen erstaunlichen Aufschwung erlebt. Selbst während der weltweiten Finanzkrise wuchs die polnische Wirtschaft als einzige in Europa, und 2014 lag die Wachstumsrate bei etwa drei Prozent. Die Weltbank prognostiziert in den kommenden 15 Jahren eine Verdopplung der polnischen Wirtschaftsleistung. Neben erfolgreichen Strukturreformen seien „niedrige Löhne und das hohe Arbeitsethos der Beschäftigten“ wesentliche Triebfedern für den Erfolg des Landes, urteilt der „Economist“: VW baut in Posen jährlich 155.000 Autos, MAN stellt Lastwagen und Busse her und Boss lässt Schuhe fertigen. Mittelfristig könne Polen aber viel mehr als die „verlängerte Werkbank“ in europäischen Wertschöpfungsketten sein, meint Jerzy Langer, Physiker und Vorstandsvorsitzender des europäischen Innovationszentrums EIT in Wroclaw, das Firmen und Forscher vor allem in den Bereichen Nano- und Biotechnologie zusammenbringt. „Deutschland benutzte nach dem Zweiten Weltkrieg Mittel aus dem Marshallplan, um innovative, internationale Unternehmen aufzubauen“, schreibt der „Economist“: „Polen könnte das Gleiche mit EU-Fördermitteln gelingen.“
Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland bremst die Entwicklung in Osteuropa. Insgesamt ist zum Beispiel der Warentransfer mit Russland laut dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag 2014 um ein Fünftel zurückgegangen.
Investitionsprogramm für Europa
Allerdings könnten sich die kräftig fallenden Energiepreise zu einem großen Konjunkturprogramm entwickeln. Unternehmen und Verbraucher würden laut einer Analyse der UniCredit um 35 Milliarden Euro entlastet, immerhin rund ein Prozent des BIP. Unabhängig von den Turbulenzen am Ölmarkt hat Europa erkannt, dass der rigide Sparkurs auf Dauer schaden kann. Deshalb will die EU-Kommission im Jahr 2015 die Wirtschaft mit dem Programm „Invest in Europa“ ankurbeln. Die Idee: Es ist genug Geld vorhanden in der Welt, jetzt soll es wieder verstärkt in die europäische Wirtschaft fließen. Die Europäische Investitionsbank stellt rund 20 Milliarden Euro zur Verfügung – dieses Geld soll nach strenger Prüfung risikoreiche Investitionen und Kredite mit Garantien absichern. So sollen private Geldgeber ermutigt werden, sich in Digital-, Energie- und Infrastrukturprojekten zu engagieren, was zu Gesamtinvestitionen von rund 300 Milliarden Euro führen soll.
Die größten Chemieunternehmen in Europa
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Umsatz in Mio. US-$ |
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1 |
BASF |
101.906 |
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32 |
Solvay |
13.691 |
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6 |
LyondellBasell Industries |
44.062 |
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34 |
DSM |
13.250 |
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7 |
Shell |
42.279 |
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38 |
LANXESS |
11.434 |
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10 |
Bayer |
29.251 |
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11 |
INEOS |
27.864 |
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40 |
Borealis |
11.220 |
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12 |
Total |
25.743 |
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41 |
Henkel Adhesive Techn. |
11.182 |
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13 |
Linde Group |
22.944 |
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… |
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… |
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50 |
BP |
8.628 |
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16 |
Air Liquide |
20.974 |
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… |
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17 |
AkzoNobel |
20.099 |
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52 |
Arkema |
8.401 |
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18 |
Johnson Matthey |
18.598 |
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… |
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… |
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54 |
Versalis |
8.071 |
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20 |
Evonik |
17.735 |
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55 |
Styrolution |
7.990 |
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… |
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… |
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28 |
Merck Group |
14.741 |
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65 |
Clariant |
6.822 |
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29 |
Syngenta |
14.668 |
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… |
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… |
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70 |
PKN Orlen |
6.433 |
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31 |
Yara International |
13.950 |
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74 |
WACKER |
6.170 |
Letztlich liege der Erfolg des Projekts Europa aber in der richtigen Balance zwischen Integration und Nationalstaatlichkeit, urteilt zum Beispiel Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, und warnt vor einer politischen Union: „Europa ist auf das Selbstbewusstsein seiner Nationen und die Handlungsfähigkeit seiner Nationalstaaten angewiesen.“ Trotz zunehmender Globalisierung bleiben die Nachbarn in Europa langfristig die wichtigsten Handelspartner. Etwa zwei Drittel des europäischen Handels findet im Binnenmarkt statt. Für die Cefic „wächst die Stärke der chemischen Industrie aus der effizienten und guten Integration der Produktion quer durch Europa“. Auch Michael Hüther hält es für zielführend, Europa über gemeinsame Wertschöpfungsketten weiterzuentwickeln. „Aber“, so sagt er, „dazu müssen wir keinen Bundesstaat schaffen.“ Unabhängig davon, wie die politische Integration Europas weiter voranschreitet – eines jedenfalls scheint sicher: Um im immer härter werdenden globalen Wettbewerb bestehen zu können, führt für Europa an einer Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit kein Weg vorbei.
Als Kanzler Adenauer im Dezember 1954 seine Regierungserklärung zur Westintegration abgab, ging es ihm um Sicherheit, Frieden und Freiheit – Werte, ohne die auch jedes wirtschaftliche Engagement nicht langfristig blühen kann. Sechs Jahrzehnte nach Adenauers Rede gilt ein nüchternes Wort daraus immer noch: „Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist eine Notwendigkeit für uns alle.“