Potenziale nicht verstecken
Zur Reportage in Leicht verständlicher SpracheDie Bayerische Staatsregierung zeichnete WACKER im Jahr 2018 für vorbildliche berufliche Inklusion aus. Doch wie zeigt sich Inklusion im Arbeitsalltag? Vier Wackerianer berichten hier, wie sie ihre Potenziale trotz Handicap voll ausschöpfen. Ihr Weg ist nicht immer leicht, aber mit großer Freude am Beruf überwinden sie kleine und große Hindernisse.
Aus einem Bauchgefühl heraus hatte Philipp Ellguth sich für eine Ausbildung zum Chemielaboranten entschieden. Seinem Gefühl zu folgen, erwies sich als richtig: Philipp Ellguth ist bis heute mit großem Engagement im Labor tätig. Und damals, 2003, war er der erste schwerbehinderte Auszubildende, der im Zuge der Integrationsvereinbarung bei WACKER eingestellt wurde. Diese Vereinbarung beinhaltet, dass pro Jahr mindestens zwei schwerbehinderte Jugendliche die Möglichkeit zu einer Ausbildung bei der Wacker Chemie erhalten sollen.
„Menschen mit gewissen Einschränkungen haben nicht nur Defizite, sondern Potenziale.“
Philipp Ellguth, Labortechniker
Zuvor hatte er eine Wirtschaftsschule besucht, in der Mathematik, Physik und Chemie keine Schwerpunktfächer waren. „Die Ausbildung war eine harte Phase“, erinnert sich Philipp Ellguth – nicht wegen seiner Fehlbildungen an beiden Händen, sondern wegen der Wissenslücken in den Naturwissenschaften.
Doch Ellguth hatte von früh auf gelernt, sich durchzubeißen. Er musste vielleicht etwas mehr üben als andere Kinder, dann jedoch beherrschte er alle Handgriffe so gut wie die anderen auch. Während der Ausbildung musste er anfangs mehr büffeln, aber ab dem zweiten Lehrjahr wurde es einfacher – und am Ende stand ein erfolgreicher Abschluss. Später absolvierte Philipp Ellguth eine Zusatzqualifikation zum Labortechniker.
Philipp Ellguth wünscht mehr Zutrauen, weniger Skepsis – und keiner soll sich verstecken.
Heute arbeitet er im technischen Marketing bei WACKER SILICONES – und ist stellvertretende Vertrauensperson für Schwerbehinderte. Der Zugang zu den gehandicapten Kollegen fällt ihm leicht, weil er ein offener und zugewandter Mensch ist und sich dadurch alle schnell verstanden fühlen. Bei diesen Begegnungen hat Philipp Ellguth immer wieder festgestellt: „Menschen mit gewissen Einschränkungen haben nicht nur Defizite, sondern Potenziale.“ Und deshalb, fügt er hinzu, wünsche er sich „mehr Zutrauen und weniger Skepsis.“ Den Betroffenen selbst empfiehlt er, sich nicht zu verstecken. Er selbst sei das beste Beispiel dafür, was jemand trotz Handicap erreichen könne: „Ich habe einen sicheren Job bei einer tollen Firma. Es war kein leichter Weg, aber meine Ausbildung und mein Beruf haben mein Leben sehr positiv verändert.“
Vermeintliche Kleinigkeiten mit großer Wirkung
„Inklusion in Bayern – wir arbeiten miteinander“, diesen Namen trägt das Emblem, mit dem WACKER Anfang 2018 von der Bayerischen Staatsregierung ausgezeichnet wurde. Zur Begründung erklärte Staatssekretär Johannes Hintersberger bei der Übergabe dieser Auszeichnung: „Die Wacker Chemie AG zeigt, wie eine inklusive Arbeitswelt funktioniert und ist deshalb ein großes Vorbild, das hoffentlich viele weitere Arbeitgeber zur Nachahmung ermuntert.“ Aber was ist nun das Besondere an der „inklusiven Arbeitswelt“ bei WACKER? Für Philipp Ellguth liegt die Besonderheit darin, dass es im Grunde nichts Besonderes gibt. So wie er arbeiten viele Kollegen mit Handicap ohne spezielle Hilfsmittel – und falls sie doch nötig sind, werden sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit bereitgestellt wie ein PC.
Mirjam Nagl weiß, dass es oft kleine Dinge sind, die das Leben schwer machen und eben auch erleichtern können.
Mirjam Nagl, Konzernvertrauensperson für Schwerbehinderte, sorgt gemeinsam mit ihren Kollegen Philipp Ellguth, Stefan Kaiser und Wolfgang Baddack dafür, dass gehandicapte Kolleginnen und Kollegen ohne bürokratischen Aufwand genau die Unterstützung bekommen, die sie für ihren individuellen Arbeitsablauf brauchen. Meistens sind es unauffällige Ergänzungen, die den Unterschied machen. „Oft sind es ja gerade die kleinen Dinge, die einem das Leben schwer machen können“, erklärt Mirjam Nagl.
„Oft sind es ja gerade die kleinen Dinge, die einem das Leben schwer machen können“
Mirjam Nagl, Konzernvertrauensperson für Schwerbehinderte
Jemand, der gerade einen Bandscheibenvorfall hinter sich hat, braucht vielleicht einen Bürostuhl mit verstellbarer Nackenstütze oder einen elektrisch verstellbaren Schreibtisch. Auch für solche vermeintlichen Kleinigkeiten sind Mirjam Nagl, Philipp Ellguth, Stefan Kaiser und Wolfgang Baddack als Vertrauenspersonen für Schwerbehinderte am Standort Burghausen die richtigen Ansprechpartner.
„Meine zehn Prozent sind meine 100 Prozent“
Für Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit gibt es einen engagierten Ansprechpartner: Stefan Kaiser. Er verfügt von Geburt an über ein auf zehn Prozent reduziertes Sehvermögen, das jeder durch ein kleines Experiment nachvollziehen kann: „Nehmen Sie ein Fernglas, drehen es um und schauen hinein. Ich sehe Umrisse und Farben, aber alles sehr weit weg – deshalb brauche ich beim Arbeiten verschiedene Hilfsmittel. Verschwommen ist für mich nichts – was ich sehe ist für mich normal. Oder anders: Meine zehn Prozent sind meine 100 Prozent.“
Für Stefan Kaiser sind seine zehn Prozent seine 100 Prozent, mit denen er durchgestartet ist.
Angefangen hat alles 1990, als Stefan Kaiser seine Ausbildung zum Bürokaufmann bei WACKER startete. Damals war das schon etwas Besonderes, als erster sehbehinderter Mitarbeiter in der Ausbildung – mit eigenem PC-Equipment. „Die damaligen Verantwortlichen von Personalabteilung, Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung wussten noch nicht, auf welche Hindernisse man so im Büroalltag stößt. Sie haben sich auf das Experiment eingelassen“, erinnert sich Stefan Kaiser. „Dank offener Kommunikation haben wir immer eine geeignete Lösung gefunden.“ Seine damaligen Hilfsmittel waren ein 20-Zoll-Monitor und ein PC, die vom Arbeitsamt bezahlt wurden. Vergrößerungsprogramme gab es noch nicht; andere Hilfsmittel waren extrem teuer. „Gemacht für Behinderte bedeutete einen vierstelligen Preisaufschlag. Das ist leider auch heute noch so“, bedauert Stefan Kaiser. „Dieser Umstand und mein Ziel, die persönliche Arbeitsplatzsituation zu verbessern und gleichgesinnten Kollegen den beschwerlichen Weg zu erleichtern, waren meine Motivatoren, sich diesem Problem anzunehmen“, so Stefan Kaiser.
„Dank offener Kommunikation haben wir immer eine geeignete Lösung gefunden.“
Stefan Kaiser, Systems Engineer
So richtig durchstarten konnte er mit diesen Zielen, nachdem er bei WACKER vom kaufmännischen Bereich in die IT gewechselt war, wo er seit 1997 als Systems Engineer arbeitet. In dieser Funktion war der 46-Jährige kürzlich für den konzernweiten Windows-10-Rollout verantwortlich. Neben vielen anderen Aufgaben kümmert er sich auch um optimale Arbeitsplatzausstattung für blinde und sehbehinderte Kollegen. Stefan Kaiser möchte, dass es ihnen nicht so ergeht wie ihm selbst, als er jahrelang nach vorne gebeugt am Schreibtisch saß, um Grafiken, Bilder und Worte erkennen zu können. „Das war extrem anstrengend“, erinnert er sich.
Stefan Kaiser nutzt eine Software, die per Mausklick Inhalte auf dem Bildschirm beliebig groß zoomen kann.
Also machte er sich daran, ein System zu konzipieren und umzusetzen, das Menschen mit wenig Sehvermögen die Arbeit am Computer erleichtert. Dazu gehört eine Software, die mit einem Mausklick die Inhalte auf dem Bildschirm beliebig groß zoomen kann – blaue Markierungen helfen dabei, zu erkennen, wo sich der Cursor gerade mal wieder versteckt. Dazu kommt eine Dokumentenkamera, die ausgedruckte Unterlagen mit einem Klick auf den Bildschirm projiziert. Abgerundet wird das System durch eine Vorlesefunktion, die sich nach Belieben ein- und ausschalten lässt.
Dieses System hat Stefan Kaiser über Jahre hinweg, aus auf dem Markt erhältlichen Komponenten zusammengesetzt und perfektioniert. Rückschläge waren natürlich auch dabei, wurden jedoch immer mit Unterstützung seiner Vorgesetzten überwunden. Ende 2016 war es fertig, seitdem arbeitet er selbst damit, aber auch andere Wackerianer mit vermindertem Sehvermögen nutzen diese Innovation. WACKER unterstützt hier mit seiner offenen Art mit Behinderungen umzugehen. Den Markt an Hilfsmitteln im Fokus zu behalten und für jeden Mitarbeiter das nötige Arbeitsequipment zur Verfügung zu stellen. „Die Arbeit ist dadurch für mich nicht nur einfacher geworden“, sagt Kaiser, „sondern ich arbeite auch viel effizienter.“ Zudem unterstützt Stefan Kaiser mit seiner Fachkompetenz Mirjam Nagl und ihre Kollegen aktiv in der Schwerbehindertenvertretung bei der Inklusion am Arbeitsplatz.
Als Gleichgestellter selbst engagiert
Neu in ihrer Runde ist Wolfgang Baddack, der im Herbst 2018 als Vertrauensperson gewählt wurde. Mit über 32 Jahren Berufserfahrung arbeitet er als stellvertretender Schichtführer bei WACKER SILICONES am Standort Burghausen. „Ich habe selbst mit einigen Handicaps zu kämpfen. Dadurch kam ich mit den Vertrauenspersonen ins Gespräch. Ihre Arbeit hat mich sehr beeindruckt und zum Nachdenken angeregt“, erinnert er sich. „Die Hilfe der Schwerbehindertenvertretung hat mich motiviert, mich selbst zu engagieren und zur Wahl als stellvertretende Vertrauensperson aufstellen zu lassen.“ Inzwischen hat er die Thematik auf einigen Seminaren vertieft, um Mitarbeiter mit Behinderungen kompetent beraten zu können.
Wolfgang Baddack macht sich für gesunde Rücken stark.
Besonders gut kennt sich Wolfgang Baddack aus leidvoller eigener Erfahrung mit Rückenleiden aus. Vor 15 Jahren hatte er nach Bandscheibenvorfällen starke Schmerzen, insbesondere in der Halswirbelsäule und in den Schultern. „Schwere körperliche Tätigkeiten waren in meinem Arbeitsalltag lange Jahre die Regel“, berichtet er. „Heute ist vieles automatisiert – trotzdem müssen wir auf ergonomisch gesundes Heben und Tragen achten.“ Dafür sensibilisiert er auch sein 20-köpfiges Team. Er selbst bekam seine Leiden durch Akupunktur gegen die Schmerzen in den Bandscheiben sowie durch regelmäßige Rückenschule in den Griff. Zur Prävention ist er nach wie vor regelmäßig bei der Massage und Osteopathie in Behandlung.
„Die Hilfe der Schwerbehindertenvertretung hat mich motiviert, mich selbst zu engagieren."
Wolfgang Baddack, stellvertretender Schichtführer
Seine Rückenleiden waren so gravierend, dass Wolfgang Baddack eine Gleichstellung erhalten hat, die ihm weitgehend denselben Status wie schwerbehinderten Menschen gibt. Damit gelten am Arbeitsplatz dieselben Bestimmungen, z.B. ein besonderer Kündigungsschutz und Hilfen zur Arbeitsplatzausstattung. Über eine Gleichstellung entscheidet in Deutschland die Arbeitsagentur.
Kommunikationsbarrieren überwinden
Weitgehend ohne behindertengerechte Hilfsmittel kommt Thomas Seitz aus, der als Chemielaborant bei WACKER POLYMERS arbeitet: Im dortigen Labor untersucht er zum Beispiel Dispersionspulver und Redispersionen; im so genannten „Technikum“ macht er unter anderem Sprühversuche. „Mein Beruf macht mir Spaߓ, sagt er, „weil ich abwechselnd im Labor und im Technikum beschäftigt bin und in Bewegung bleibe. Meine Behinderung ist dabei kein Hindernis.“
Welche Behinderung? Man muss schon zweimal hinsehen, ehe man das Hörgerät entdeckt, das Thomas Seitz trägt. Er ist in seinem sechsten Lebensjahr ertaubt. Einen „glücklichen Umstand“ nennt er das, denn dadurch konnte er seine Muttersprache noch bis zum Schuleintritt hören und sprechen. Außerdem kennt er Geräusche wie Straßenlärm, Vogelgezwitscher oder Gewitterdonner. Dank seiner „Spätertaubung“, von der übrigens rund 150.000 Menschen in Deutschland betroffen sind, kann er sehr gut von den Lippen seiner Gesprächspartner ablesen – Menschen, die von Geburt an ertaubt sind, tun sich damit viel schwerer. „Dennoch stoße ich auf Kommunikationsbarrieren, da ich nicht jeden gut verstehen kann“, erklärt Thomas Seitz. „Leider werde ich durch meinen guten Spracherwerb, von vielen wahrscheinlich unbewusst, wie ein Schwerhöriger oder Hörender wahrgenommen – und manche Leute reden einfach drauf los.“
Thomas Seitz bleibt in seinem Beruf gern in Bewegung und fühlt sich als gleichwertiger Mitarbeiter.
Das Hörgerät trägt Thomas Seitz, weil es ihm hilft, laute Geräusche wahrzunehmen. Stimmen kann er damit aber nicht als Sprache auffassen, sondern nur als Laute. Seitz suchte sich deswegen einen Beruf, bei dem er nicht telefonieren muss. Ein Bürojob kam also nicht in Frage, aber der chemisch-technische Bereich war ideal. Im Labor kann er genauso arbeiten wie alle anderen Chemielaboranten auch. Nur das Technikum wurde für ihn mit einer Sonderausstattung versehen: Eine Lichtblitzanlage leuchtet auf, sobald dort ein akustischer Alarm losgeht – was wegen der regelmäßigen Probealarme auch immer wieder passiert. Die Durchsagen dabei erklären ihm seine Kollegen. Auch da gibt es keine Probleme – einige Kollegen haben sogar einfache Gebärden erlernt, so etwa das Fingeralphabet.
„Ein ganz besonderes Anliegen für uns ist ein vorurteilsfreies Arbeitsumfeld, das allen Beschäftigten ermöglicht, zum Unternehmenserfolg beizutragen.“
Dr. Christian Hartel, Arbeitsdirektor und WACKER-Vorstandsmitglied
Auf Betriebsversammlungen ist eine Gebärdendolmetscherin im Einsatz, damit Menschen wie Thomas Seitz Veranstaltungen verfolgen können. Solch eine Dolmetscherin übersetzt auch bei der jährlichen Schwerbehindertenversammlung in die Gebärdensprache sowie bei Sicherheitstagen und internen Infoveranstaltungen. Die Arbeit der Dolmetscherin ist anspruchsvoll, da sie viele WACKER-spezifische Fachausdrücke korrekt in die Gebärdensprache übersetzen muss. Mirjam Nagl setzte sich gemeinsam mit Thomas Seitz dafür ein, dass sie Unterlagen und Präsentationen nicht erst kurz vor der Veranstaltung erhält, sondern schon einige Tage früher. So kann sich die Dolmetscherin in die Thematik einlesen und weiß, was bei den Ansprachen auf sie zukommt.
Vorurteilsfrei und gleichwertig
„Ein ganz besonderes Anliegen für uns ist ein vorurteilsfreies Arbeitsumfeld, das allen Beschäftigten ermöglicht, zum Unternehmenserfolg beizutragen“, erklärte Arbeitsdirektor und WACKER-Vorstandsmitglied Dr. Christian Hartel bei der Übergabe des Inklusions-Emblems. Philipp Ellguth, Stefan Kaiser, Wolfgang Baddack und Thomas Seitz können bestätigen, dass ein solches Arbeitsumfeld im Unternehmen selbstverständlich ist. Im WACKER-Konzern arbeiten über 900 Menschen mit einem Handicap. Dies entspricht 8,8 Prozent der Beschäftigten – gesetzlich gefordert wären nur fünf Prozent. Thomas Seitz spricht für viele von ihnen, vielleicht sogar für alle, wenn er erklärt: „Ich fühle mich als gleichwertiger Mitarbeiter.“