Verbundproduktion
Nichts verschwenden, alles verwenden
Verwinkelte Bauten, durchzogen von zahllosen Leitungen und Rohren. Auf den ersten Blick ist das WACKER-Werk in Nünchritz schwer zu deuten. Dabei ist dieser komplexe Verbund der Schlüssel zu einer abfallarmen und energieeffizienten Produktion. Genauer hinschauen lohnt sich, denn hier wird aus jedem Atom und jeder Kilowattstunde Strom das Beste herausgeholt, teilweise sogar mehrfach.
Mitten hinein ins Werk und dann nochmal hoch hinaus geht es auf die oberste Plattform. Hier oben, auf dem Dach der Produktionsanlage für pyrogene Kieselsäure, ist der Liebingsplatz von Dr. Jutta Matreux. Nur die langen dünnen Reaktionskolonnen nebenan überragen die Werksleiterin an diesem Ort. In der luftigen Höhe schaut sie sich gerne um. „Von hier aus habe ich nicht nur den besten Blick auf unser Werk in Nünchritz“, sagt Matreux, „sondern ich sehe auch, wie es in die Landschaft eingebettet ist.“ Im Westen schiebt sich langsam die Elbe vorbei. Am Nordrand sind die von oben winzigen Häuser der nächsten Anwohner zu sehen. Gegenüber befindet sich ein Naherholungs- und Naturschutzgebiet. In der Ferne zeichnen sich die Berge der Sächsischen Weinstraße ab und ganz am Ende des Horizontes erhebt sich bereits majestätisch das Elbsandsteingebirge. „Wir haben hier eine besondere Verantwortung“, so die Werksleiterin, „für unsere Produkte, die Menschen und die Umwelt, die uns umgibt.“ Alles hängt miteinander zusammen, im Großen wie im Kleinen.
Das WACKER-Werk in Nünchritz produziert besonders abfallarm und energieeffizient. Das belegen die aktuellen Umweltkennzahlen: In den letzten 20 Jahren, seit denen das Werk zu WACKER gehört, konnten Abfall, Abwassermenge, Abluftfracht, Abwasserfracht und der Kohlendioxidausstoß jeweils um mehr als 90 Prozent pro Tonne Bruttoproduktion reduziert werden. „Und das, obwohl der Standort in dieser Zeit massiv ausgebaut worden ist“, ergänzt Matreux nicht ohne Stolz. Die Gesamtbruttoproduktion ist während der letzten zwei Dekaden um das 26-Fache gestiegen. Das Erfolgsrezept dafür liegt ihr beim Blick vom Dach direkt zu Füßen: verfahrenstechnische Anlagen mit hunderttausenden von einzelnen Komponenten, die zusammen ein hochintegriertes Verbundsystem ergeben. Das bedeutet: Alles wird verwertet. Entstehen in einem Produktionsschritt Abfall- oder Nebenprodukte, werden diese an anderer Stelle wieder der Produktion zugeführt. Etwa als Rohstoff oder in Form von Energie. Fast alles, was das Werk bezieht, wird in verkaufsfähige Produkte umgewandelt.
Effizienz ist mehr als die Summe der einzelnen Teile
Dabei sah die Vogelperspektive auf das Werk in Nünchritz 1998 noch ganz anders aus. Auf einer alten Luftaufnahme von damals zeigt Frau Matreux, dass nicht nur die Gesamtfläche viel kleiner war als heute. Bei genauem Hinsehen stehen die wenigen Anlagen auch eher vereinzelt. Weniger Rohre und Leitungen verbinden sie untereinander, kurzum: Es ist noch kein geschlossener Verbund. Investitionen in Höhe von 1,7 Milliarden Euro haben das Bild des Werks seitdem massiv verändert. Entlang der chemischen Reaktionspfade zur Synthese von Siliconen und Polysilicium wurden Anlagen ausgebaut oder neu errichtet. Immer im Mittelpunkt dabei stand die hochintegrierte Verbundstruktur. „Ein solcher Chemiestandort kann nur mit geschlossenen Stoff- und Energiekreisläufen wirtschaftlich betrieben werden“, ist sich Matreux sicher. Das gilt bis heute. Mit dem großen Ausbau seit der Übernahme von WACKER konnte der Verbund abgestimmt und optimiert werden. Die Geschichte des WACKER-Werks in Sachsen zeigt, dass Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht nur zusammengehören, sondern sogar einander bedingen.
„Ein solcher Chemiestandort kann nur mit geschlossenen Stoff- und Energiekreisläufen wirtschaftlich betrieben werden.“
Im Nordosten des Werks befindet sich das Herz des rohstofflichen Produktionsverbunds, die Chlorwasserstoff-Anlagen. Das farblose Gas Chlorwasserstoff wird in zwei Kreisläufen geführt – einem für Silicon, einem für Polysilicium. Es ist der eigentliche Champion der hiesigen Verbundproduktion. Chlorwasserstoff regt die an sich reaktionsträgen Ausgangsstoffe Silicium und Methanol an verschiedenen Stufen der Produktion immer wieder zu Reaktionen an. So verbindet es sich mit Methanol zu Chlormethan. Chlormethan reagiert wiederum mit Rohsilicium im Wirbelschichtreaktor zu einer Mischung verschiedener Methylchlorsilane (Müller-Rochow-Prozess). Durch Destillation der Silane und anschließende Hydrolyse beziehungsweise Alkoholyse entstehen Siloxan, pyrogene Kieselsäure und verschiedene Nebensilane. Letztere werden beispielsweise als Siliconöle oder Spezialsilicone aufbereitet und verkauft. Chlorwasserstoff selbst wird wieder zurückgewonnen, aufgereinigt und neu eingesetzt.
Der Chlorwasserstoffverbund ist auch das entscheidende Merkmal für eine wertschöpfende Herstellung von Polysilicium. Das gemahlene Rohsilicium reagiert mit dem gasförmigen Chlorwasserstoff zu Trichlorsilan. Aus dieser hochreinen Flüssigkeit werden anschließend Stäbe aus reinem polykristallinem Silicium, dem Polysilicium, gewonnen. Der dabei freigesetzte Chlorwasserstoff wird ebenfalls wieder zurück in den Kreislauf eingespeist.
„Wir versuchen wirklich jedes Molekül Chlorwasserstoff im Kreislauf zu führen und mehrmals wiederzuverwenden“, unterstreicht Jutta Matreux. So wird ein einzelnes Chlor-Atom in vergleichbaren Verbundproduktionen statistisch gesehen bis zu acht Mal wieder verwendet. Nichts soll verschwendet, alles verwendet werden. Verborgen ist Chlorwasserstoff dennoch, weil er, außer in sehr kleinen, verkaufbaren Restmengen, in keinem der späteren Verkaufsprodukte von WACKER erhalten ist.
HDK® als Bindeglied der Kreisläufe
Aber nicht nur die Wiederverwertung von Chlorwasserstoff zeichnet den Verbund aus, sondern auch die clevere Kombination von Reststoffen zu neuen Verkaufsprodukten. Das beste Beispiel dafür ist pyrogene Kieselsäure. Die Produktionsanlage, auf deren Dach sich die schöne Aussicht genießen lässt. Also, runter vom Dach und rein ins Gebäude.
Pyrogene Kieselsäure, welche von WACKER unter dem Markennamen HDK® vermarktet wird, begegnet einem dort in Form von feinem, weißem Pulver. Als eine Art Schweizer Taschenmesser der Hilfs- und Zusatzstoffe ist es in einer Vielzahl von Anwendungen im Einsatz – vom leicht fließenden Ketchup über fein verpresste Tabletten bis hin zum optimalen Autolack. HDK® wird direkt als Verkaufsprodukt vertrieben. Es verknüpft im Verbund aber auch den Polysilicium- mit dem Siliconkreislauf wie kein anderes Produkt. Bei der Herstellung von hochreinem Polysilicium entstehen unter anderem Chlorsilane, die in der HDK®-Anlage zu pyrogener Kieselsäure umgesetzt werden. An anderer Stelle wird diese HDK® wieder eingesetzt: bei der Modifikation von Siliconen, etwa um die Festigkeit oder die Fließfähigkeit zu erhöhen.
Die Währung der Zukunft: Energie und CO2
Weniger offensichtlich, aber ebenso entscheidend für einen hochintegrierten Produktionskreislauf ist der energetische Verbund. Etwa eine Terawattstunde Strom pro Jahr benötigt das Werk in Nünchritz für die energieintensive Produktion. Der Großteil davon wird aus dem öffentlichen Stromnetz bezogen und da gilt: „Jedes Watt, das nicht verbraucht wird, kostet uns auch nichts“, so Matreux. Hinsichtlich der jüngsten Rekordstrompreise ein großer Hebel. Neben Strom ist Dampf Hauptenergieträger am Standort. WACKER erzeugt diesen im eigenen Wärmekraftwerk umweltfreundlich aus Erdgas. Wo möglich, werden Abwärme und Dampf aus chemischen Energien in andere Anlagen geführt und dort verbraucht. Selbst Stoffen, die sich weder weiterverarbeiten noch verkaufen lassen, entlockt die eigene Rückstandsverbrennungsanlage noch das letzte Quäntchen Energie. „Wir legen nicht nur Wert darauf, sparsam mit unseren Rohstoffen umzugehen, sondern auch unsere Betriebsmedien, wie Energie, Dampf, Strom oder Wasser, bestmöglich einzusetzen“, so Matreux. Dass dies gelingt, honorierte kürzlich der Verband der Nordostchemie. Dieser zeichnete das Werk in Nünchritz mit dem Responsible-Care-Preis 2021 für besonders hohe CO2-Einsparungen in den Betriebsabläufen aus. Mit Maßnahmen zur besseren Wärmerückgewinnung und durch Zweitnutzungen konnte der Einsatz von Erdgas als Primärenergie im Heizkraftwerk Nünchritz reduziert und die CO2-Emissionen des Standortes um jährlich 30.000 Tonnen gesenkt werden. Heute deckt das Werk darüber hinaus etwa 70 Prozent seines gesamten Dampfbedarfs durch Wärmerückgewinnung ab.
Der hochintegrierte Verbund ist die Stärke von WACKER. Energie und Stoffe werden bestmöglich eingesetzt, was etwa die wertschöpfende Herstellung von hochreinem Polysilicium überhaupt erst ermöglicht. Gezielt entwickelte Produktionspfade, Wieder- und Weiterverwendung von Rohstoffen sowie Energieeffizienz sind entscheidend für eine nachhaltige und wirtschaftliche Produktion. Auch für die Zukunft sind solche Maßnahmen mehr denn je gefragt, wenn es darum geht, die globalen Klimaziele zu erreichen. Am Standort Nünchritz arbeiten die Mitarbeiter bereits an neuen Projekten. Im Rahmen eines konzernweiten Dekarbonisierungs-Fahrplans prüfen sie weitere Technologien für den Einsatz in Nünchritz. Damit der Verbund auch in den nächsten Jahren seiner Historie treu bleibt und immer besser wird.
Verbundstandorte im WACKER-Konzern
Neben Nünchritz in Sachsen sind auch Burghausen in Bayern und Zhangjiagang in China Verbundstandorte. Auch sie kennzeichnen überwiegend geschlossene Produktionskreisläufe, in denen beispielsweise 93 bis 96 Prozent des Chlorwasserstoffs wiederverwertet wird. Auch konzernweit bilden die Standorte einen Verbund, in dem sie sich untereinander unterstützen. So ist etwa Nünchritz die globale Drehscheibe für Siloxane, die dort in großer Menge vorgehalten und in die anderen Standorte geliefert werden. Damit läuft der kontinuierlich produzierende Verbund auch bei geplanten Stillständen oder Instandhaltungen weiter. In allen drei Verbundstandorten setzt WACKER auf modernste Umwelttechnik und strenge Standards für Sicherheit, Gesundheits- und Umweltschutz.